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„100 Jahre 1. Weltkrieg“ – Psychogramm einer Epoche

Prolog - Ein Schuhkarton mit Feldpostkärtchen wird auf einem Dachboden gefunden. Eine Familie entdeckt die Zuneigung zweier Menschen, die ohne die Distanz, ausgelöst durch den Einzug in den Krieg des einen und das zu Hause bleiben des anderen, nie dokumentiert worden wäre.

Der Blick auf die Gedanken und Wünsche zweier Menschen lässt auch einen Blick und die Gedanken auf jene Zeit zu. Als wir eine Veranstaltung zum Thema 100 Jahre 1. Weltkrieg realisieren wollten, erzählte Helmut Langenbruch von der Existenz dieser Briefe. Gleichzeitig mit diesen Dokumenten werden die unzähligen Briefe und Dokumente anderer Schicksale jener Zeit bewusst, die Dimension der Unfassbarkeit des 1. Weltkrieg wird deutlich. Wie und warum sollte man eines Weltkriegs gedenken?

Die Gedenkstätten Verdun, u. a. zeigen das titanische Grauen der Zerstörung, der Unmenschlichkeit, und sind Mahnmale allein nur zu dieser Zeitspanne. Eine Zeit noch ohne Ahnung für das noch folgende Grauen des zweiten Weltkrieg und vieler anderer Kriege der Neuzeit. Aus heutiger Sicht lässt sich leicht urteilen, über die Unwissenheit, Naivität der Menschen jener Zeit, doch in der Zukunft wird über uns auch geurteilt werden, wie scheinbar unwissend wir Dinge zulassen konnten, die doch so deutlich in ein Desaster führen.

Die Zeit vor dem 1. Weltkrieg ist von Umbrüchen und Aufbrüchen gekennzeichnet. Deutlich wird eine Sehnsucht nach mehr. Mehr Freiheit, mehr Experiment. Mehr Technik. Mehr, mehr , mehr, mehr Ich. Sigmund Freuds Begründung der Psychoanalyse ist schon Geschichte. Das Grammophon, der Film, die Fotografie dokumentieren das Zeitgeschehen. Ereignisse fast jeder Art können konserviert und jederzeit gespiegelt werden. Autos, Schiffe, Flugzeuge verringern die räumliche Distanz. Im Fall des Krieges ermöglicht aber gerade das Flugzeug, die Kanone, das Gewehr eine noch größere Distanz zum Gegenüber, die daraus folgend das Mitfühlen, Mitleid fast abstrakt erscheinen lassen. Der Mensch ist schon in dieser Zeit in seinem Erfindergeist, in seiner Schöpferphantasie frei, dem Schöpfer näher als jemals zuvor. Alles scheint möglich. Ein Überleben in dieser Apokalypse Krieg ein Gottesgeschenk. Diese Faszination für den Fortschritt, der Freiheit in allen Bereichen, den politischen Umbrüchen und Experimenten für neue Gesellschaften, spiegelt sich auch in der Kunst, der Literatur, der Musik wieder. In der Politik wird in Russland, quasi im Schatten des Krieges, eine Vision, ein neues gesellschaftspolitisches Experiment gestartet. Die Kunst hatte also keine Grenzen. Es existierte eine Gleichzeitigkeit von Strömungen. Wagnerianer waren unter anderem auch in Frankreich zu finden. Stravinskys Ballettmusiken für Diaghilevs „Balletts Russe“, Debussys und Ravels Sensibilitäten und die vieler anderer schon weit in der Zukunft, unserer heutigen Vergangenheit.

Schönberg bricht konsequent mit dem traditionellen tonalen System und katalysiert die Unfassbarkeit des Lebens in eine neue Dimension. Es gibt ein Mehr an Intensität in allem zu finden. Das da mehr ist als nur das Ich, das mir erlaubt wurde, wird erahnt. Bei der Recherche wird deutlich, dass in allen Nationen eine Begeisterung für den Krieg, zunächst unreflektiert, aufgrund dieser in der Luft liegenden Sehnsucht nach Übersteigerung, auch des Egos möglich war. Die Fünf Gesänge von Rilke lassen diesen „Höhenflug“ erahnen. Im realen Höhenflug waren auch die Starkrieger jener Zeiten, die Flieger. Der „Rote Baron“ - Manfred von Richthofen, Ernst Udet, Hermann Göring. Die beiden letzen habe auch die Geschicke des Zweiten Weltkrieges mitgestaltet. Es hatte Ihnen neben vielen anderen Zeitgenossen noch nicht gereicht! Vor dem Hintergrund des Unfassbaren möchte diese Gedenkveranstaltung dem Zuschauer Empfindungsperspektiven auf jene Zeit ermöglichen.

Die Künstler dieses Programms sind, wie jeder Mensch auf seine Art, auf der Suche nach Intensität. Sie sind in dieser Produktion die Protagonisten für die Faszination der Menschlichkeit, der Zerstörung, der Schöpfung. Am Ende bleibt sicher ein Unverständnis. Mögen wir alle unsere Energie in der Sehnsucht nach Intensität für eine Zukunft der Menschlichkeit verwenden. Jan Hellwig 6/2014